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Leiden schafft Leidenschaft?!

„An Aschermittwoch ist alles vorbei“. Sagt man am Rhein. Schluss mit lustig, jetzt beginnt der Ernst.

 

Heute beginnt die Karwoche, in der wir besonders an das Leiden Jesu denken. Leiden ist ein Wort, das völlig aus der Mode gekommen ist. Jeder strebt danach, ohne Leiden zu sein, und das ist ja auch erst einmal menschlich in Ordnung.

 

Doch Leiden kann auch ein neuer Anfang sein.

 

Es gibt den schönen Spruch: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“ Sogar eine Facebook-Seite gibt es hierzu! Ich möchte heute versuchen, mal umgekehrt darzustellen, wie Leiden aus Leidenschaft werden könnte.

 

Passion kommt vom Lateinischen pati „erdulden, erleiden“ bzw. passio „das Leiden“. Im Englischen bedeutet Passion „Leidenschaft, Lust, Feuer, Feurigkeit. Passion sagen wir dafür auch.

 

Es gibt z.B. passionierte Briefmarkensammler. Oder passionierte Jäger. „Passionierter Christ“ habe ich noch nicht gehört. Warum eigentlich nicht?

 

Die Passionszeit, die kirchlich immer als Erinnerungszeit an die Leiden Christi verstanden wurde, ist eine Zeit, die wir nutzen können, uns ganz nah in Jesu Leben hinein zu vertiefen, auf ihn zu hören, von ihm zu lernen.

 

 

1. Aufgekreuzt

Beschäftigen wir uns mal mit diesem Mann, der da plötzlich vor ca. 2000 Jahren in der Wüste von Galilea aufkreuzte. Hier einige Episoden aus seinem Leben.

 

Jesu Zeit des Wirkens begann in der Wüste, wo ihn der Teufel versuchte. 40 Tage lang. 40 Tage – wie die Passionszeit. Wüste, das ist der Inbegriff von Einsamkeit, Gefahr, Angst. Jesus hat das durchgestanden. (Mathäus 4, 1ff.)

 

Danach kreuzte Jesus auf einer Hochzeit auf, auf der irgendwann zu vorgerückter Stunde der Wein ausging. Dank Jesu Fähigkeiten floss der Wein schließlich wieder in Strömen. (Johannes 2,1 -11)

 

Wenig später kreuzte Jesus bei Fischern am See Genezareth auf, in ihrem Alltag. Benutzte ihr Boot, gab Ratschläge fürs Fischen. Und machte sie zu Jüngern. (Lukas 5, 1-9)

 

Jesus kreuzte an einem Brunnen in Samarien auf, an dem eine Frau erschöpft saß. Mit ihr führte er eine intensive Unterhaltung über lebensnotwendige Dinge. (Johannes 4, 2-9)

 

Jesus kreuzte in einer Runde frommer Männer auf, die eine Frau gemäß dem Gesetz steinigen wollten, die Ehebruch begangen hatte. Lässt sich von der Frau die Füße küssen und Öl darüber gießen. (Lukas 7,36-39)

 

Jesus kreuzte nicht unbedingt da auf, wo ein frommer Jude zu sein hatte.  Jesus heilt unten am Teich Betesda einen Lahmen, während oben am Tempel gefeiert wird. (Johannes 5,2ff.)

 

 

2. Durchkreuzt

Das hätte so weiter gehen können noch mindestens 2000 Jahre. Wäre heute vielleicht RTL dabei, wenn Wasser zu Wein wird oder ein Lahmer plötzlich gehen kann.

 

Vielleicht wäre Jesus aber auch vergessen heute. Halt als ein Prediger und Wunderheiler unter vielen.

 

Das Kreuz macht den Unterschied.

 

Das leere Grab macht den Unterschied.

 

Insgesamt durchkreuzt Jesus in den geschilderten Szenen Erwartungen, Gewohnheiten, Lebensabläufe.

 

Jesus durchkreuzt so manches Vorurteil, dass Glauben keinen Spaß machen kann und sollte. Johannes berichtet von der Hochzeitsfeier, dass sechs große Krüge, die durchschnittlich 100 Liter fassen, mit Wasser gefüllt wurden, das dann in Wein verwandelt wurde. Das entspricht 857 Flaschen Wein! Jesus verschwendet sich. Die Party geht zu später Stunde weiter und taugt damit sogar als Sinnbild dafür, was uns einst für ein rauschendes Fest bei Jesus erwartet. Interessant, dass diese Stelle am Anfang seines öffentlichen Auftretens steht!

 

Jesus durchkreuzt die Resignation der Fischer, die die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen haben. Jesus durchkreuzt ihre Sorgen wegen des entgangenen Einkommens, ihre Selbstzweifel und womöglich auch ihre Scham, mit leeren Händen zu ihren Familien zurückzukommen. Und Jesus durchkreuzt das, was sie meinen fachlich zu wissen: wenn man in der Nacht nichts gefangen hat, wird man am Tag erst recht nichts fangen.

 

Jesus durchkreuzt die Erwartungen der Frau am Brunnen. Sie hatte sich in der Mittagshitze zum Brunnen geschlichen. Wollte niemandem begegnen, da sie eine Außenseiterin war. Fromme Juden machen normalerweise einen Bogen um Samarien. Und um Samariter sowieso. Und schon gar nicht würde ein jüdischer Mann auf die Idee kommen, eine Frau aus Samarien einfach so anzusprechen. Eine Frau aus Samarien, die zudem offenbar eine lockere Moral hatte, schon so viele Männer gehabt hatte. Jesus kennt und benennt ihr Problem und durchkreuzt damit ihre Erwartungen. Er macht das, was man nicht macht und sie nicht erwartet.

 

Jesus durchkreuzt die fromme Routine der gesetzestreuen Pharisäer, indem er der Frau beisteht, die Ehebruch begangen hat. Er macht das alles so geschickt, dass nachher keiner mehr weiß, wer hier eigentlich wen angeklagt hat.

 

Jesus durchkreuzt die Hoffnungslosigkeit, dass nach all den Jahren, in denen nichts passierte, nun noch etwas passieren kann. 38 Jahre musste der Lahme am Teich warten, bis er durch Jesus geheilt wurde!

 

Damit wir uns aber an all das wirklich ein für allemal erinnern, mussten erst einmal diese drei – nein nicht tollen – Tage kommen. Tage, in denen erst einmal alle Erwartungen der Jünger Jesu durchkreuzt werden. Und in denen auch Jesu Erwartungen selbst durchkreuzt werden, er selbst an seine Grenzen kommt.

 

Es beginnt mit einer Nacht im dunklen Garten.

 

Kennt ihr so etwas?

 

Jesus in Gethsemane. (Matth. 26, 36-46, Markus 14, 32-42, Lukas 22, 39-46, Johannes 18,1)

 

Völlig alleine. Keine Freunde da. Jesus fühlt sich völlig verlassen. Ringt mit seinem Vater. Sein eigener Wille wird endgültig durchkreuzt. Jesus ist tief traurig. Er zerbricht fast unter der Last. hat Todesangst – Schweiß und Blut tropfen von seiner Stirn. Er fleht seinen Vater an und bittet ihn um Alternativen. Aber er bleibt im Auftrag.

 

Etwa einen Steinwurf entfernt kniete er nieder und betete: „Vater, wenn du willst, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Aber nicht dein Wille geschehe, sondern deiner.“ Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.

(Lukas 22, 41b-43)

 

 

Dieses Bild  habe ich 2002 um Ostern herum gemalt. Ich kam gerade aus einer schweren persönlichen Krise. Daher die Büsche des Gartens wie eine bedrohliche Welle, die auf die Gestalt Jesu einzustürzen droht. Aber ich habe wie Jesus erlebt, dass ein Engel mich stärkte. Vielmehr, dass Jesus mich stärkte. Dass ich wie der verlorene Sohn auf dem Bild von Jens Menschen fand, die mich mit offenen Armen empfingen.

 

Was ich 2002 noch nicht wusste: Das Schlimmste stand mir noch bevor. Und in den kommenden zwei, drei Jahren konnte ich reichlich trainieren, mich an Gott zu hängen und mich von ihm durchtragen zu lassen.

 

Auch Jesus hatte in Gethsemane das Schlimmste noch vor sich. Er aber wusste, was ihm bevorstand. Und er ging den Weg ans Kreuz im Gehorsam zu seinem Vater und mit der Leidenschaft, uns zu retten!

 

Und mit dem Tod am Kreuz am Tag darauf durchkreuzt er schließlich  ALLES.

 

Er durchkreuzt

  • die Träume seiner Mitläufer
  • die bösen Gedanken seiner Gegenspieler – er steht wieder auf!

 

 

 

3. Angekreuzt

Heute nach zweitausend Jahren erinnert vieles an Jesus.

Zeitrechnung, Namen, Feste.

Aber kaum einer weiß noch die Bedeutung.

 

Es gibt viele Ehrennamen für Jesus, weil er für uns ans Kreuz gegangen ist:

 

Der König, der Erlöser, der Wunderrat, der Befreier, der Vollkommene, das Haupt der Gemeinde, der wiederkommende Herr, der Sohn des lebendigen Gottes, die Quelle der Hoffnung, der König aller Könige und Herr aller Herren!

 

Und dadurch haben auch wir Ehrentitel bekommen. Wir sind das auserwählte Volk. Wir sind Heilige. Kinder und Erben Gottes!

 

Das muss man sich mal vorstellen.

 

Hier wählt nicht ein Volk den Obersten, wie wir das machen mit unserem Kreuz auf dem Wahlzettel.

 

Nein, uns kreuzt der König auf dem Wahlzettel an:

 

ý Ich wähle dich, weil ich dich erlöst habe

 

ý Ich wähle dich, weil ich dir vergeben will!

 

ý Ich wähle dich, weil ich dir Leben geben will!

 

ý Ich wähle dich, weil ich dir Ruhe geben will!

 

ý Ich wähle dich, weil ich dein Freund sein möchte!

 

ý Ich wähle dich, weil ich dich lieb habe

 

Lässt uns das kalt?

Berührt uns das?

 

Hat Gott uns berührt?

 

 

 

4. Das Kreuz auf uns nehmen

 

Wie ist das nun mit dem Zusammenhang von Passion als Leiden und Passion (engl. Leidenschaft)? Oder gar dem englischen Compassion (Mitgefühl)?

 

Nochmal die Frage: rührt uns das an?

 

Jesus sagt den Jüngern und allen, die es hören:

Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist es nicht wert, mein Jünger zu sein.

(u.a. Mt.10, 38)

 

Und Jesus sagt:

Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.

(Mt.11,30)

 

Dieser Satz steht im Kontext, dass wir unsere Last bei Jesus abladen können:

Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!

(Mt.11,30)

 

Schwer zu verstehen. Wir sollen eine Last abladen, dafür bekommen wir ein Kreuz aufgeladen?

 

Denkt mal daran, was wir vorhin hörten. Last und Stärkung. Ein Engel stärkte Jesus. Erinnert euch an das Bild. Erinnert euch an die Verzweiflung Jesu. Sein Wille wird gebrochen, sein Leib wird gebrochen.

 

Unsere Erfahrung ist doch solche Gebrochenheit.

 

Unsere Gebrochenheit durch Unzufriedenheiten, Enttäuschungen, Verzweiflungen, Niedergeschlagenheit, Schmerzen, Krankheit, Tod, Scheitern.

 

Aber: alle Führer und Propheten des Alten Testaments, die von Gott eindeutig berufen und gesegnet waren, haben gebrochene Leben gehabt.

 

Und wir, die wir von Gott ebenso geliebt sind, können uns dem ebenfalls nicht entziehen. Gebrochenheit gehört deshalb zu unserem Leben. Leiden gehört daher zu unserem Leben. Und das Leiden ist etwas höchst individuelles, das kein anderer so richtig nachempfinden kann.

 

Hier werden unsere eigenen Pläne durchkreuzt durch mancherlei, das wir nicht unter Kontrolle haben.

 

Die gute Nachricht ist jedoch: das ist nicht das Ende. Die Resignation, die Erwartung, dass nun nichts mehr kommt, wird ebenfalls durchkreuzt. Der Engel kann auch uns stärken. Ich habe das erlebt.

 

Der Schriftsteller Henri J.M. Nouwen empfiehlt in seinem Buch „Du bist der geliebte Mensch“ zwei Schritte:

 

  1. Uns mit unserer Gebrochenheit anzufreunden. Und sie unter den Segen Jesu zu stellen.
  2. Daraus die Kraft entstehen lassen, anderen in ihrer Gebrochenheit beizustehen.

 

Aus dem Segen entsteht Kraft.

 

Leiden schafft Leidenschaft.

 

Ein neuer Blick für die Mitmenschen.

 

Habt ihr diesen Blick?

 

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es zu Punkt 2 lange dauern kann. Ich spürte erst nach und nach dieses Drängen, den Blick auf andere Menschen zu richten.

 

 

Mit diesem neuen Blick, der gewachsen ist, bin ich beunruhigt. Sehe ich, sehen wir wirklich die vielen Menschen um uns herum?

 

Lassen wir uns wie Jesus von einem Engel stärken, um den Auftrag wieder zu entdecken, Menschen zu retten, ihnen die Liebe Jesu nahezubringen? Haben wir diese Leidenschaft?

 

Gott ist schon da unter den Menschen. Er wartet nur auf uns.

 

Diesen Satz hörte ich neulich. Er erinnerte mich an ein Zitat von Prof. Michael Herbst aus Greifswald auf dem Willow-Creek-Kongress vor einigen Jahren in Karlsruhe, das mir seither nicht aus dem Kopf geht:

 

Wenn wir Jesus begegnen wollen, müssen wir da hin gehen, wo Jesus ist.

 

Jesus ist auch hier im Gottesdienst. Na klar. Aber Jesus ist zuallererst auch da, wo er gebraucht wird. Auch bei den Menschen um uns herum. Er braucht uns.

 

Wir können Menschen auf die Sprünge helfen, so wie Jesus es damals mit den Brüdern aus Emmaus gemacht hat. Das ist schon immer für mich die schönste Ostergeschichte gewesen, die ganz am Ende der Passionszeit bzw. des Osterfestes steht.

 

Jesus geht mit den Brüdern. Hört sich ihre Geschichten an. Ihre Mutlosigkeit. Ihre Verzweiflung darüber, dass ihr Superstar Jesus nun tot ist. Und durch dieses Erzählen und das Mitgehen von Jesus erkennen sie plötzlich, dass er es ist, der mit ihnen geht.

 

Sie erkennen, dass Jesus lebt!

 

Und in diesem Prozess des Erkennens können wir Jesus heute unterstützen, in dem wir mit anderen Menschen mitgehen, in allem, was sie durchleben.

 

Vor unserer Tür sind Menschen, denen Jesus durch uns begegnen will.

 

Menschen in ihrer Wüste aus Angst und Einsamkeit.

 

Menschen in ihrem Alltag, die Jesus zu Jüngern machen will – wie die Fischer am See Genezareth.

 

Menschen, die auf lebensnotwendige Gespräche warten, ohne es vielleicht zu wissen – wie die Frau am Jakobsbrunnen.

 

Menschen, die in ihren Sünden mehr als Gesetze und fromme Sprüche brauchen – wie die Ehebrecherin.

 

Menschen, die geheilt werden möchten – wie der Lahme am Teich Bethesda.

 

Menschen, mit denen Jesus am Ende der Tage sein Hochzeitsfest feiern möchte!

 

Ich glaube, die Freude über diesen Dienst kann in uns die Leidenschaft entfachen! Und ich wünsche mir, dass wir uns gegenseitig diese Leidenschaft in der Gemeinde anfachen.

 

Zum Schluss noch zwei Begebenheiten, die Jesu Leidenschaft so richtig zeigen:

 

Petrus fährt er einmal an: 

Weg mit dir, Satan! Du willst mich hindern, meinen Auftrag zu erfüllen. Du verstehst Gottes Gedanken nicht, weil du nur menschlich denkst!“ (Matth. 16,23)

 

Und nach Jesu Wutausbruch im Tempel, als er die Händler hinausjagt heißt es:

 

Seine Jünger aber mussten an das Wort in der Heiligen Schrift denken: „Der Eifer für deinen Tempel wird dich vernichten.“ (Johannes 2,13-17)

 

 

 

Ich wünsche mir, dass wir als Gemeinde und als einzelne uns die Zeit nehmen, uns wieder einmal in die Geschichten der Passion zu vertiefen. Nachvollziehen, wie Jesus sein Leiden ertragen konnte, weil er die Leidenschaft hatte, uns zu retten. Um selbst zu dieser Leidenschaft zu kommen.

 

Lasst uns dann mit Leidenschaft losgehen und von der Osterfreude erzählen!

 

Lasst uns bei den Menschen aufkreuzen.

 

Hoffnungslosigkeit und Leid durchkreuzen.

 

Menschen ankreuzen, so wie Jesus es gemacht hat.

 

Aufkreuzen, Durchkreuzen, Ankreuzen:

 

Leiden schafft Leidenschaft!

 

Oder?

 

Amen

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